Die nasezwickenden Enten vom Panzergraben

autofiktives Märchen

Die weiße Ente wurde zum ersten Mal Mutter. Sie schaute mit nestwarmem Herzen auf ihre zwölf prächtigen Eier und konnte den Tag kaum erwarten, an dem sich zwölf gelbe Schnäbel durch die Schale in ihre Welt nagen würden. Träumend saß die weiße Ente auf ihrem Nest und blickte auf den Panzergraben, der diesen Namen trug, weil er eine alte Wehranlage aus dem Zweiten Weltkrieg war. Die kriegerische Vergangenheit ihrer Heimat verstand die weiße Ente erst, als zwei waschechte Räuber vor ihr standen. Lang war ihr Haar und in Zöpfen gebunden. Um die Hälse trugen sie selbstgehäkelte Beutel und in ihren Herzen nichts Gutes.

Die weiße Ente fauchte und schlug mit den Flügeln, als die Räuber sie vom Nest stießen. Sie biss ihnen in die Waden so fest sie konnte. Doch die Ente war nur ein kleines Tier und machtlos gegen die großen Räuber. Die Räuber füllten ihre selbstgehäkelten Beutel und rannten über die Brücke. Mit gramgebeugtem Hals stand die weiße Ente vor dem geplünderten Nest. Zwei ihrer Eier waren geraubt – und die anderen verloren.

Eins nach dem anderen rollte die weiße Ente ihre Eier in den Panzergraben, wo sie in der Tiefe versanken. Auf der anderen Seite des Grabens aber stiegen zehn gelbe Entenseelen aus dem Wasser. Im Entenmarsch watschelten sie über die Brücke, den Räubern hinterher. Das letzte Entchen schaute zurück und deutete der weißen Ente mit einem Schnabelwink an, ihnen zu folgen. So verließ die weiße Ente ihr leeres Nest und betrat zum ersten Mal in ihrem Leben das andere Ufer.

Sie folgte den gelben Entenseelen eine Spielstraße entlang, in dem die Autos langsam fuhren, weil nur Schritttempo erlaubt war. Sie folgte ihnen zu einem Eiscafé, in dem man das Eis in warme Schokolade tauchte. Die Schokolade gefror sofort und bildete eine knusprige Schicht, die von allen Räubern heiß geliebt wurde. Sie folgte den gelben Entenseelen über einen Parkplatz, auf dem keine Autos standen. Und endlich standen sie alle vor der Räuberhöhle, über der in großen Lettern „Grundschule Herxheim“ stand.

Die weiße Ente grübelte, was als Nächstes zu tun sei. Da kam ein frischer Märzwind auf, der – eins nach dem anderen – die gelben Entenseelen mit sich fortwehte. Bevor das letzte Seelchen in den Wind sprang, piepste es: „Für ein Nest braucht es alle Eier.“ Da wusste die weiße Ente, was zu tun war.

Die Grundschule hatte viele Fenster. Und obwohl Enten schlecht fliegen können, flog die weiße Ente an jedes einzelne und schaute hindurch. Enten können auch schlecht sehen. Aber das interessierte die weiße Ente nicht. Sie kniff die schwarzen Knopfaugen zusammen, bis sie ihre beiden Räuber entdeckte. Da saßen sie: In einem Raum zwischen zwanzig anderen Räubern. Sie erkannte sie sofort an ihre selbstgehäkelten Beuteln, die sich verdächtig wölbten.

Alle Räuber saßen still, nur einer sprach. Er war der größte Räuber, den die weiße Ente je gesehen hatte. In der Hand hielt er einen langen Rohrstock, mit dem er wieder und wieder auf eine grüne Wiese einstach. Die grüne Wiese war voller Kreide-Zeichen. Einige waren zackig wie die Füße der Enten. Andere waren rund wie Enteneier und viele lang wie die Halme von Nestern. Der Ente schwante, was die Räuber planten.

Entsetzt rannte sie zurück zum Panzergraben, wobei sie fast von einem Auto überrollt wurde, das zu schnell durch die Spielstraße fuhr.

„Die Räuber kommen!“, rief die weiße Ente.

Da brach ein Flattern und Schnattern aus. Da stoben die Federn und auf so manchem Nest, saß die falsche Ente. Aber das tat nichts zur Sache, solange nur alle Eier in Sicherheit waren. Die Enten starrten furchtsam zur Brücke, die über den Graben führte. Über diese Brücke mussten die Räuber kommen.

Viel Wasser floss den Panzergraben hinab, doch kein Räuber kam.

„Die zwölf Entenseelen haben dich verrückt gemacht“, riefen die Enten.

Ein Wasserhuhn, das es gut mit der weißen Ente meinte, sagte: „Leg zwölf neue Eier.“

Doch die weiße Ente schüttelte traurig den Kopf, denn das war unmöglich. Zwei Entenseelen staken noch in selbstgehäkelten Beuteln.

„Für ein Nest braucht es alle Eier“, sagte sie.

Niemand verstand, warum sie sich weigerte neue Eier zu legen.

Fortan galt die weiße Ente als verrückt. Darum hörte sie gleich ganz damit auf, sich wie eine normale Ente zu benehmen. Bei Sonnenaufgang eilte sie die Spielstraße hinab, am Eiscafé vorbei über den Parkplatz zur Räuberhöhle. Dort setzte sie sich auf eine Fensterbank und beobachtete die Räuber durchs Fenster. Die kleinen Räuber lernten vom großen Räuber, noch fiesere Räuber zu werden. Das endete oft in Prügeleien auf dem Pausenhof und nicht selten mit blutigen Nasen. Wenn jemandes Nase blutete und einer heulte, wurden die Räuber gleich friedlich und ließen alles Kämpfen sein.

Wenn die weiße Ente Hunger hatte, pickte sie Pausenbrot, das in dicken Krumen auf dem Schulhof lag. Dabei ließ sie aber nie die selbstgehäkelten Beutel aus den Augen.

Es war Mittwoch und einer der Räuber trug seinen Beutel nicht um den Hals. Da wusste die Ente: Es stimmt etwas nicht. Der Räuber ohne Beutel flüsterte dem anderen Räuber etwas ins Ohr. Dann streckten die beiden die Hände in die Luft.

„Dürfen wir aufs Klo?“ fragten die Räuber.

Der große Räuber nickte.

Die beiden kleinen Räuber gingen aber nicht aufs Klo. Sie liefen zum Pausenhof und kamen direkt unter der Fensterbank der weißen Ente zum Stehen.

„Es ist kaputt“, sagte der Räuber ohne Beutel.

„Du lügst“, sagte der andere.

Da riss der erste Räuber dem zweiten Räuber den selbstgehäkelten Beutel vom Hals. Er holte das Entenei heraus und warf es mit einer Wucht an die Wand, dass es laut zerplatzte.

Ein fauler Gestank machte sich breit und die kleinen Räuber schrieen, was den großen Räuber alarmierte.

Er riss das Fenster auf und brüllte hinab: „Was habt ihr getan, ihr Rotzgören? Nur Unfug im Sinn!“

Wütend drohte er mit dem Rohrstock, doch von oben kam er nicht an ihre Nasen. Darum liefen die beiden kleinen Räuber lachend davon.

Da stürzte sich die weiße Ente von der Fensterbank. Im Tiefflug raste sie über die Räuber hinweg, neben ihr flog die letzte gelbe Entenseele, auf die sie so lange gewartet hatte. Die weiße Ente ließ unentwegt Häufchen auf die Räuberköpfe fallen. Eins für jedes tote Entenkind. Nachdem das zwölfte Häufchen sein schreiendes Ziel getroffen hatte, löste sich die gelbe Entenseele im Wind auf.

Die weiße Ente aber flog zurück zum Panzergraben und baute ein neues Nest, gut versteckt unter einer stacheligen Brombeerhecke. Dorthin wagten sich selbst die wildesten Räuber nicht!

Die Ente saß Tag und Nacht auf ihren Eiern und verließ ihr Nest nie. Darum war sie am Ende der Brutzeit ganz dünn geworden. Als aber endlich die zwölf Entenseelen in ihre Körper schlüpften und mit gelben Schnäbeln durch die Schale bohrten, hörte die weiße Ente auf, verrückt zu sein. Ganz normal wurde sie allerdings nie. Sie hatte in der Grundschule viel gelernt. Sie wusste jetzt, dass Räuber empfindliche Nasen hatten und brachte ihren Entenkindern und deren Entenkinder bei, allen Räubern, ob groß, ob klein, die Nase blutig zu zwicken, wenn sie sich nur in die Nähe der Brücke wagten. Und so fürchteten die Räuber in Herxheim bald nur eines: die nasezwickenden Enten vom Panzergraben.

Anmerkung

Dieses autofiktive Märchen ist das Ergebnis der Schreibübung “Autofiktion – erzähle dich schreibend selbst“.

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