Das Ende der Langeweile

autofiktives Essay

Als ich 1984 eingeschult wurde, hatte die Digitalisierung der Kindheit längst begonnen: an der Universität Karlsruhe, nur wenige Kilometer von meinem Heimatort Herxheim entfernt, empfing Werner Zorn die erste E-Mail. Sie kam aus den USA. Wie vieles, das mein Leben zukünftig drastisch verändern würde.

Zeitgleich präsentierte Steve Jobs in Boston das Gerät, vor dem ich heute die meiste Zeit meines Tages verbringe: den Mac.

Von diesen Veränderungen, die in nur wenigen Jahrzehnten unseren Alltag prägen würden, ahnten meine Cousine und ich 1984 nichts. Wir waren Teil der vielleicht letzten Generation, die eine analoge Kindheit erleben durfte. Eine Kindheit, in der man die Langeweile noch mit einer Körperlichkeit spürte, dass man gar nicht anders konnte, als sich Abenteuer auszudenken. Bestimmt war es dieses überwältigende Gefühl das den 18-Jährigen Mathias Rust dazu brachte „zum Spaß” nach Moskau zu fliegen und auf dem Roten Platz zu landen. Auf solche Ideen konnte man überhaupt nur in den Achtzigern kommen. Vielleicht hat Nintendo gerade deshalb wenige Jahre später den Game Boy erfunden: Damit die Jugend nicht auf dumme Ideen kommt.

1984 hatten wir noch dumme Ideen. Jede Menge davon. Als typische Dorfkinder, genossen wir eine große Freiheit, die nach dem Mittagessen begann und bis zum Abend währte. Wir streunten durch Herxheim, dessen knapp 29 Quadratkilometer unser riesiger Spielplatz war. Wir liefen uns die Beine müde, ohne je an Herxheims Grenzen zu stoßen. Tagsüber interessierte es unsere Eltern nicht, was wir taten – solange sich niemand über uns beschwerte. Es kümmerte sie auch nicht, wo wir waren – solange wir um Punkt sechs Uhr nach Hause kamen.

Selbst ohne Uhren wussten wir immer, wann unsere Freiheit abgelaufen war. Denn ganz Herxheim wogte im Vier-Viertel-Takt der Kirchturm-Uhr durchs Leben und wusste immer, was die Stunde schlägt. Die Kirchturm-Glocken hörte man über alle Häuserdächer hinweg. Nur in der Siedlung, wo meine Großmutter wohnte, verlor ihr mahnendes Geläut an Gewicht, wurde zum klingenden Windspiel, das man gern überhörte. In der Siedlung, einem Ort der zu Herxheim gehörte, aber nie so richtig, war die Freiheit am größten. Hier war die Freiheit mit allen Abenteuern gewaschen.

Bis zur Siedlung musste ich dreißig Minuten laufen. Ein weiter Weg, den ich trotzdem täglich antrat. Zwischen dem Dorf und der Siedlung lag ein weites Feld, das mir als Kind riesig vorkam. Weizen, Mais und Raps wurden darauf angebaut. Inzwischen ist das Feld zusammengeschrumpft. Häuser sind darauf gewachsen und bald wird es ganz verschwunden sein.

Der lebendige Mittelpunkt der Siedlung waren Freibad und Waldstadion. Hier schlug – vor allem im Sommer – das gesellschaftliche Herz von Herxheim.

Im Waldstadion fanden regelmäßig Pferde- und Motorradrennen statt. Rannten die Pferde, bekamen wir Kinder 10 Mark von den Eltern und durften auf Sieg oder Platz wetten. Rasten die Motorräder über die 1000m lange Sandbahn, lockte das große Geld im Gläser- und Flaschensammeln. Im Sommer 1984 wurde erstmals eine Langbahn-Weltmeisterschaft in Herxheim ausgetragen. Der Fahrer der Herzen hieß Gerd Riss. Er konnte zwar erst 1991 den Weltmeistertitel erringen, sein Talent begeisterte aber schon damals die Menge – zumal er für Herxheim an den Start ging. In diesem Sommer waren unsere Sammeltaschen so gut gefüllt, dass wir Mühe hatten, sie an die Stände zurückzutragen. Kaum ein Kind, das während dieser Weltmeisterschaft kein Pfandvermögen gesammelt hätte. Besonders begehrt waren Schoppengläser. Zwei Mark gab’s für ein Schoppenglas. Wir legten unseren Reichtum in Nogger, Ed von Schleck und Pommes rot-weiß an, die wir am Kiosk des Freibads erstanden.

In der Nähe der Siedlung gab es aber auch geheimere Orte. Orte, die nur den Kindern gehörten und für die sich Erwachsene nicht interessierten. Dazu zählte das Dickicht an den Ufern des Panzergrabens, einer ehemaligen Wehranlage aus dem Zweiten Weltkrieg. Heute schwimmen Barsche und Rotaugen im Panzergraben. Früher schwammen in seinen flachen Gewässern vor allem Stockenten, die im Frühjahr und Herbst Duzende gelb-braune Küken hatten.

Meine Cousine und ich liebten Enten, vor allem die putzigen Kleinen. Wie genau wir auf die Idee kamen, selbst ein Küken auszubrüten, weiß ich nicht mehr. Vielleicht erschien es uns die unkomplizierteste Art, an ein Küken zu kommen. Eier laufen schließlich – im Gegensatz zu kleinen Enten – nicht weg. Wie immer fassten wir zuerst einen Plan. Meine Cousine und ich waren groß im Pläne schmieden. Wir würden die Küken mit unserer Körperwärme ausbrüten. Alles was wir dazu brauchten, waren kleine Beutel, die wir unter unsere Pullover stecken konnten – und die waren schnell gehäkelt. Häkeln, das hatten wir im Werkunterricht gelernt – damals mein absolutes Lieblingsfach. Wir nahmen Maß mit Hühnereiern und stellten sicher, dass unsere Beutel etwas größer waren. Denn so viel wussten wir: Enteneier waren größer als Hühnereier. Wir flochten eine Schnur, um die Beutel umhängen zu können – und schon konnte es losgehen.

Mit den Beuteln um den Hälsen suchten wir im Ufergebüsch ein Nest. Man musste vorsichtig sein und sich vor Brennnesseln und Brombeerhecken in Acht nehmen.

Ob die Entenmutter, die wir fanden, tatsächlich weiß war, kann ich rückblickend nicht mehr mit Sicherheit sagen. Sie ist es aber sehr wahrscheinlich gewesen, denn wir wollten am liebsten gelbe Küken. Wir scheuchten die Entenmutter vom Nest, was diese sich nicht kampflos gefallen ließ. Wenn sie jemanden gebissen hat, dann sicher nicht mich. Als wir unsere zwei Eier erobert hatten, steckten wir diese in unsere selbstgehäkelten Beutel. Das Brüten konnte beginnen.

Meine Erinnerung an diese Räuberepisode ist vage. Ich weiß beispielsweise nicht mehr, wie lange wir die Enteneier um den Hals trugen. Ich bin mir sogar sehr sicher, dass wir sie nachts abgelegt haben. Falls unsere Eltern überhaupt etwas zu unserem Plan zu sagen hatten, dann war es höchstens: „Das klappt nicht.“ Keiner dachte darüber nach, ob man Entenmütter aufjagen und Enteneier stehlen dürfe. Das Leben einer Ente galt damals ebensowenig wie das eines Huhns – und wenn man es recht bedenkt, hat sich daran im Grunde wenig geändert.

Woran ich mich allerdings genau erinnern kann ist, dass wir eines der Eier gegen die Wand der Grundschule geworfen haben. Mein Ei muss kaputt gegangen sein. Es muss fürchterlich gestunken haben, als es zerbrach. Nur so kann mir der Gedanke gekommen sein, dass die Eier längst verdorben waren.

In der Schulpause versuchte ich meine Cousine davon zu überzeugen. Doch sie wollte mir nicht glauben, dass sie ein faul gewordenes Ei um den Hals trug. Wer von uns beiden das Ei dann tatsächlich an die Hauswand geworfen hat, diese Erinnerung hat die Zeit mit sich genommen. Was ich aber nie vergessen werde, ist der würgreizerregende Gestank, als es zerplatze.

Jeder in Herxheim kennt diesen Gestank gut, denn vor den Toren des Dorfes befindet sich das beliebte Naturdenkmal „Eierbrünnel“, ein obligatorisches Ausflugsziel an allen Wandertagen. Das schwefelhaltige Wasser der Quelle hat angeblich besondere Heilkräfte. Für uns Kinder war es eine übliche Mutprobe, das nach Eiern stinkende Wasser zu trinken.

Heute denke ich oft an meine Grundschulzeit zurück, die zu meinen glücklichsten gehörte. In diesen letzten analogen Jahren, in denen wir Dorfkinder uns unseren Spaß selbst ausdenken mussten, war die Langeweile bereits angezählt. Wenig später wurde dieses Lebensgefühl, das Lust auf Abenteuer machte und im besten Fall auf dumme Gedanken kommen ließ, zu Tode digitalisiert.

Die Langeweile ist inzwischen einer To-Do-Liste gewichen, auf der mehr Einträge stehen als sich in einem Leben abhaken ließen. Ich frage mich oft, ob ich Langeweile nicht mehr spüren kann, weil ich so viel zu tun habe. Oder ob ich mir so viel vornehme, weil ich die Langeweile nicht mehr ertrage.

Jedenfalls könnte ich nicht sagen, wann ich mich das letzte Mal nach Herzenslust gelangweilt hätte. Schon Ende der 90er-Jahre, habe ich das Gefühl aktiv vertrieben – mit einem Computerspiel, das mich in eigenartige Trance-Zustände versetze und dessen Ohrwurm sich noch heute durch meine Gehirnwindungen bohrt: Tetris.

Anmerkung

Dieses autofiktive Essay ist das Ergebnis der Schreibübung “Autofiktion – erzähle dich schreibend selbst“.

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