Früher war mehr Lametta

Früher war mehr Lametta

Meine Mutter hält ein Baby auf dem Arm. Im Hintergrund hat ein 70er-Jahre Mensch seine Albträume als Design verkauft – und meine Eltern waren die Blöden, die sich so eingerichtet haben. Alles ist wild gemustert. Das Foto ähnelt einem Suchbild. Ich suche darauf: meine Vergangenheit.

Im Mittelgrund stehen Weihnachtsbaum und Gabentisch – im Vordergrund: wir.

Ich mag dieses Bild, weil es eines von wenigen ist. Weil es so etwas wie eine Vergangenheit zeigt. Früher war alles Gegenwart. Filme waren teuer, Kameras selten zur Hand, die glücklichen Momente rar. Auf diesem Bild hatte das Ende bereits seinen Anfang genommen.

Ich habe dieses Bild gestohlen. Fühlte mich berechtigt, es mitzunehmen, denn es zeigt mich. Vermutlich. Zu diesem Bild gibt es keine Geschichte. Es könnte ein völlig fremdes Baby sein, das meine Mutter in den Armen hält. Denn: Das Baby auf dem Foto hat noch ein heiles Gesicht. Ohne Narbe fällt es mir schwer, mich in meiner Vergangenheit zu verorten. Mein Fundstück „Andreas erstes Weihnachten“ könnte daher auch das erste Weihnachten meines Bruders sein. Oder einer Cousine. Würde ich meine Mutter fragen, könnte sie mir wohl etwas zu diesem Foto erzählen. Zum Beispiel, welches Motiv der Strampler zeigt oder was ich damals zu Weihnachten bekam. Vieles ist nicht sicher auf diesem Bild. Aber wenn dieses Baby tatsächlich ich bin, dann ist eines ganz gewiss: Über das glitzernde Lametta habe ich mich gefreut. Bevor wir die silbernen Fäden aus Umweltgründen verbannten, haben wir Kinder es in Unmengen an den Weihnachtsbaum geworfen. Es war der finale und lustigste Akt des jährlichen Christbaum-Schmückens.

Ich frage meine Mutter nicht, wen dieses Bild zeigt. Ich will nicht erfahren, dass das gar nicht ich bin auf dem Foto. Mir gefällt der Gedanke, mich bei meinem ersten Weihnachtsfest zu sehen, an das ich keine Erinnerung habe. Vor dem Lametta-Baum. In dem Albtraum-Zimmer mit Gabentisch. Dort wartet ein Geschenk für mich, das längst vergessen auf einer Pfälzer Müllhalde weiter wartet. Ich bin geborgen im Arm meiner Mutter, die auf mich blickt. Ob sie lächelt oder nicht, das kann ich nicht sehen. Selbst damals konnte ich es nicht sehen, denn ich schaue neugierig aus dem Bild heraus. Meine Mutter aber scheint zu lächeln. Immerhin.

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