Eine kulinarische Tragödie

Schreibübung Rollzettel Teil 2 Eine kulinarische Tragödie

Anton rümpfte die Nase. Spiritus lag in der Luft. Ihm schoss das Blut ins Gesicht. Das würde er nicht wagen! Um sieben in der Früh doch nicht? Anton eilte zum Küchenfenster, riss die Gardine zur Seite und starrte ins feiste Gesicht von Sepp, der es doch gewagt hatte. Frech winkte der Sepp zu ihm hoch und feuerte eiskalt seinen Grill an. Direkt unter seinem Küchenfenster. Anton schnappte nach Luft vor so viel Dreistigkeit. Das durfte er nicht. Es war ihm richterlich verboten worden! Mit hilflos hämmerndem Herzen ließ Anton die Gardine fallen. Heute war zudem Ostwind gemeldet. Der Rauch würde ihm das ganze Haus verpesten. Ihn ekelte bereits der Gedanke an den Gestank verkohlten Fleisches und verbrannten Fetts.

So nicht, mein Lieber, dachte Anton, griff zu Hut und Stock und stampfte aus dem Haus.

Wenig später erreichte er den Stand vom Walkenhorst, der ebenfalls Sepp hieß und sonntags seinem Hobby frönte: Trödel verkaufen. An allen anderen Tagen war der Walkenhorst der einzige Polizist im Dorf.

„Der Eber Sepp hat schon wieder den Grill an“, sagte Anton anstatt einer Begrüßung.

„Sonntags hab’ ich dienstfrei“, antwortete der Walkenhorst.

„Ich erstatte Anzeige!“

„Montag wieder“, sagte der Walkenhorst, drehte sich wortlos um und ließ Anton stehen.

Frechheit! Aber was wollte man vom Walkenhorst schon erwarten? Verbrechen sah der nicht, selbst wenn man ihn mit der Nase hineindrückte. Maulwurf hatten sie ihm schon in der Schule hinterhergerufen. Einige nannten ihn noch heute so. Freilich nur hinter seinem Rücken. Dass der Walkenhorst Dorfpolizist geworden war, verdankte er allein dem Umstand, der Neffe des Bürgermeisters zu sein.

Keinesfalls würde Anton bis Montag warten. Das Fass war längst übergelaufen. Noch mal kam der Eber mit seinen Provokationen nicht durch. Antons Finger tasteten über die Auslagen von Walkenhorsts Trödelstand und umschlangen ein glattes, kühles Etwas, das schwer und seltsam vertraut in der Hand lag. Anton blickte nach rechts, vergewisserte sich nach links. Niemand beachtete ihn – und so wanderte der Gegenstand unbemerkt in seine Westentasche.


Das Verbrechen, zu dem er am Sonntagabend gerufen wurde, sah auch der „Maulwurf“. Der Eber Sepp lag mit eingeschlagenem Schädel vor seinem Grill. In der Blutlache neben ihm lag die Tatwaffe – und so blind war selbst Sepp Walkenhorst nicht, als dass er sie nicht sofort erkannt hätte. Die alte Pistole mit dem fliederfarbenen Griff hatte seinem Großvater gehört und war am Vormittag unter wenig mysteriösen Umständen von seinem Verkaufsstand verschwunden.

Walkenhorst klopfte bei Anton, der in seiner Backstube stand und seelenruhig Brötchen rollte. Die erste Charge war bereits im Ofen und duftete verführerisch. Dem Wachtmeister lief das Wasser im Mund zusammen. Dass das Dorf an einem Tag den besten Metzger und den besten Bäcker verlieren würde, war eine kulinarische Tragödie.

„Die müssen in zehn Minuten raus“, sagte Anton und streckte die Hände vor sich. Mit einem leisen Klacken schlossen sich die Handschellen um Antons Handgelenke. Während Wachtmeister Walkenhorst ihn abführte, sog Anton befreit die Luft ein und lächelte.

Anmerkung

Dieser Text ist das Ergebnis der Schreibübung “Rollzettel“.

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